Article blob/g

Magic Mushrooms

15.03.2023

Magic Mushrooms
Vielleicht werden wir es irgendwann verstehen, Jérémie (vielleicht auch nicht) Das war eine der seltsamsten Nächte meines Lebens. Magic mushrooms

Ich war zu Besuch bei meinem Freund Pit in Biel. Gegen Mitternacht sagte er: Ich habe da noch ein paar Pilze. Psilocybin, magic mushrooms. Er zerkleinerte sie und machte uns in zwei Gläsern ein braunes Gebräu damit. Das tranken wir, warteten ein bisschen, und dann dachten wir beide ans Burgund. Herbstbäume, alte Schlösser mit Weinkellern, Nebel über dem Kanal, Laubfeuer, Dijon-Senf. Wir gingen die Treppe herunter, setzten uns in seinen alten crèmefarbenen Mercedes und fuhren los. Nach einiger Zeit war es, als ob wir nicht mehr fuhren; die Frontscheibe verwandelte sich in eine Breitlandwand, auf der Landschaften vorbeiflitzten. Wir hörten Prince, „The Cross“, und es war, als ob er direkt zu mir, und nur zu mir, spräche. Pit und ich diskutierten, aber unser Gespräch wurde nach und nach immer telepathischer. Kurze Andeutungen genügten, und ich wusste genau, was er meinte. Er sagte etwa: „Schöne Blumen am Wegrand...“, und es war, als ob ich in sein Gehirn blickte und all die tausend Assoziationen simultan mitverstand, die für ihn mit diesen wenigen Wörtern verbunden waren. Auch brachten mich die meisten seiner Äusserungen zum Lachen, weil ich immer gleich merkte, wodurch sie, neben dem konkreten Anlass, auch noch motiviert waren, und diese unterschwelligen Gründe waren alles andere als salonfähig. Freud hätte seine wahre Freude daran gehabt.

Myzelien. Pilze sind unterirdisch durch Myzelien verbunden, und – verstand ich plötzlich – mit den Menschen war es ebenso. Nur verdrängte man das normalerweise. Dabei wäre auch gewöhnliche Kommunikation ohne diesen Schuss Telepathie - oder Intuition -  gar nicht möglich. Telepathie ist allgegenwärtig, soziales Leben wäre ohne sie zum Scheitern verurteilt. Sind diese Gedanken nachvollziehbar? Für mich selbst sind sie – zwanzig Jahre später – nicht mehr so evident, aber damals waren sie es.

Ja, und dann fuhren wir durch eine endlose Pappelallee, und die Pappeln sahen plötzlich alle wie riesige Pilze aus. Wir hielten an und stiegen aus, und der Boden war ganz elastisch, wie Moor, und alles feucht und nach verregnetem Waldboden riechend.

„Der Mensch stammt nicht vom Affen ab, sondern vom Pilz“, sagte Pit, und ich war dann etwa zwei Stunden damit beschäftigt, all die tausend Ebenen dieser Aussage zu dechiffrieren.

Dann stiegen wir wieder ein und brausten davon. Ich schaute einmal auf den Tachometer hinüber. 200 Stundenkilometer. Draussen sauste der Nachthimmel und die Sterne vorbei, es war wie Raumschiff Enterprise. Welten, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat.

Irgendwann hielten wir in einer Pizzeria an. Es wurde serviert, und ich sagte zur Serviertochter: „Die Pizza ist aber extrem heiss.“

„Warten Sie einen Moment“, sagte sie.

Als ich abermals einen Bissen nahm, war sie kalt.

„Das ist, weil sie sie im Mikrowellengrill backen“, sagte ich zu Pit. „Da werden sie rasch sehr heiss, kühlen dann aber auch eben so rasch wieder ab.“

Ich wollte mich beschweren, und machte mich schon daran, auf der Serviette die vermutliche Hitzekurve nachzuzeichnen, aber Pit hielt mich glücklicherweise davon ab.    

Das Lustige war, dass die Pizza später plötzlich wieder warm war. Das hatte wohl mit dem Raum-Zeit-Kontinuum zu tun.

Ich erzählte von Rose, die einmal unter LSD-Einfluss an eine Grillparty eingeladen wurde. Sie beobachtete, wie sich der Speck auf dem Feuer krümmte und wand, und dann blickte sie erschreckt auf die St. Galler Bratwurst und rief zum allgemeinen Erstaunen der andern Gäste: „Sie lebt noch! Sie lebt noch!“

Und Pit sagte: „Ja, auch die Pizza lebt. Sie hat Wallungen. Aber noch erstaunlicher ist, dass auch du und die Serviertochter leben.“

Und ich versank wieder für zwei Stunden in Nachdenken.

Zunehmend kamen mir Begriffe und Konzepte abhanden. Wir gingen zurück zum Parkplatz, und ich dachte: Seltsam, diese verschiedenfarbenen Ungetüme, die da herumstehen. Und ich war ganz erstaunt, als Pit eines von ihnen mit einem Metallstäbchen öffnete und sich hineinsetzte. Es war, als ob ich die Dinge zum erstenmal sah, ohne vorgefasste Vorstellungen.

Erstaunlicherweise kamen wir tatsächlich irgendwann in Dijon an. Im Morgengrauen checkten wir in einem Motel ein. Ich wunderte mich, dass uns die Dame an der Reception überhaupt ein Zimmer anvertraute, ich stellte mir vor, wir müssten wie Marsmenschen (oder Pilze auf Beinen) aussehen. Aber es war offenbar mehr innen als aussen.

Am nächsten Morgen fuhren wir an den Strand. Irgendwo hinter einem umgekippten Fischerboot stand ein zerbeulter Überseekoffer im Sand. Pit öffnete quietschend den Deckel, und ein rosa Ballon quoll heraus. Wir schreckten zurück. Wir spazierten zu einem verlassenen Bootshaus hinüber und schauten durch die zerschlagene Fensterscheibe. Drinnen lief ein Fernseher, obwohl es nirgends einen Stromanschluss gab.

Langsam wurde es uns ein bisschen zuviel. Natürlich hatten die Liebespärchen auch überall grosse Herzen am Ufer hinterlassen und ein Schlagersänger trällerte aus einer Bar: „Deine Spuren im Sand...“

Ich setzte mich auf einen Pneu und riss Grasbüschel aus.

 

„We are such stuff, as dreams are made on“, sagte Pit und öffnete ein Kinder-Überraschungsei, das er irgendwo gekauft hatte. „And our little life is rounded with a sleep.“

Ich war immer wieder überwältigt von Pits universaler Bildung. Und so leger vorgetragen!

Dann kam ein Senegalese mit Sonnenbrillen, Gürteln und Badetüchern vorbei und fragte: „Voulez-vous chose-là?“

Ich fragte ihn, ob er zufällig auch Joghurts habe. Er entschuldigte sich umständlich und versprach, seinen Kollegen Amadou zu holen, der für die Nahrungsmittelbranche zuständig sei. Wir versprachen ihm, einen Moment auf seine Sachen aufzupassen, aber dann erschien ein Flic und sagte, wir dürften hier nicht verkaufen, oder ob wir über eine Genehmigung verfügten. Ich erklärte ihm, wir seien Schweizer, aber da zeigte er anklagend auf ein paar braune Pilzchen, die plötzlich zwischen meinen Füssen aus dem Sand sprossen und rief höhnisch: „Und das, sind das etwa auch Schweizer?“

Aber glücklicherweise tauchte in diesem Moment Jérémie auf den Plan, und erklärte, das sei alles bloss ein Kunstwerk. „Sie vielleicht“, sagte der Flic, „aber ich bin real.“

Jérémie wollte ihm zeigen, dass er bloss auf Spanplatten aufgemalt war, wie auch das Meer und der Strand und der Himmel, und wollte ihn hinter die Bühne zerren, um ihm die raffinierten verschiebbaren Kulissenwände zu zeigen, aber der Flic zog seinen Revolver und schrie: „Wenn sie mich noch einmal anfassen, laufe ich über.“

Das war nun allerdings eine seltsame Ausdrucksweise. Meinte er „überlaufen“ so wie kochende Milch, oder eher im Sinne von „Mafiaboss läuft zur Polizei über“?

In diesem Moment kam der Senegalese zurück, mit einem Nature-Joghurt. Ich wollte gerade etwas sagen über Joghurt-Kulturen (auch Joghurts haben Kultur) und ihre Beseeltheit, aber da rief Jérémie: „Wir müssen jetzt leider schliessen“ und knipste das Licht aus. Jetzt sassen wir da an diesem Strand und mir fiel es wie Schuppen von den Augen, dass erstens irgendwas mit der Zeit nicht stimmte und dass zweitens das Burgund meines Wissens nicht am Meer lag. „Jérémie!“ rief ich ins Dunkel wie ein Kind, das seine Mama verloren hat. „Pit!“

Nichts. Und dann plötzlich hörte ich eine Art Wimmern neben mir. Ich griff in die Finsternis, tastete dem Boden entlang und griff schliesslich in das feucht-kalte Joghurt.

„Iass mich!“ flehte es. „Ich bin geboren worden um gegessen zu werden.“

Aber es tat mir leid. Vielleicht wusste es ja nicht, was es tat. Schon so viele Kulturen sind von den Weissen zerstört worden, manchmal ahnungslos, so wie man eine Ameise zertritt. „Folge deiner Bestimmung und deinen Wünschen“, das sagt sich so leicht. Aber manchmal sind uns auch die Wünsche bloss eingepflanzt, wie Pilzkulturen, die man in die Milch spritzt, und auf einmal findest du dich als Vacherin oder als Kefir wieder. War es wirklich das, was du wolltest?

Inzwischen gab es mehrere Stimmen, die in mir sprachen. Eine tönte wie meine Mutter, eine wie meine Grosstante. Alles, was ich von mir gab, klang wie eine Persiflage auf mich selbst. Es war höchste Zeit, diesen Film zu verlassen. Ich versuchte, durch den Schlafausgang zu entkommen, aber es war hoffnungslos. Jedes Mal, wenn ich einnickte, löste sich ein Schwarm von Sporen und vervielfachte das Gemurmel. Ich strich mir durch das Haar, aber es waren keine Haare mehr, sondern Lamellen, die abbrachen. Erstaunt griff ich mir an die pelzige Zunge, aber eine Stimme sagte: Nicht die Hand abschlecken, sie ist giftig. Riesige Fliegenpilze schwebten an uns vorbei.

Endlich, endlich fuhr Pit mit seinem Mercedes vor, Vollbremsung, quietschende Reifen. „Steig ein!“ schrie er. Ich hechtete auf den Hintersitz und Pit raste davon.

„Das ist kein Alptraum mehr“, sagte Pit. „Das ist Realität. Aber du hast es ja so gewollt.“

 (Artikel für die Monographie Jérémy Gindre, Schweizerischer Kunstverein, 2005)