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Der Pilz am Ende der Welt

28.02.2023

Der Pilz am Ende der Welt
Klimawandel und das Bewusstsein der Endlichkeit wertvoller Ressourcen macht den sorgsamen Umgang mit unserer Umwelt notwendig und beschäftigt nicht nur die wissenschaftlichen Forschungen, sondern auch die Kultur. Das neue Buch Der Pilz am Ende der Welt (2018 auf Deutsch erschienen) der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing widmet sich mit dem Wildpilz Matsutake, der wegen seines speziellen Fäulnisgeruchs von den Japanern geliebt und von den Europäern (und Nacktschnecken) gemieden wird.
Matsutake

Matsutake

Der Wildpilz Matsutake, der Sporen versprüht und durch Mykorrhiza-Netzwerke mit benachbarten Bäumen und ihrer organischen und anorganischen Umwelt verbunden ist, wird in ihrem lesenswerten Streifzug durch prekäre Lebenswelten, die zeigen, wie neues Leben jenseits des Fortschrittsdenkens entsteht, zum Akteur und Narrativ. Dabei sollen die aktuellen Diskussionen über Fortschritt und apokalyptisches Denken reflektiert und Kooperationen in den Trümmern des Kapitalismus freigelegt werden. Die Bedeutung eines lebendigen Zusammenspiels, somit Verflechtungen und Netzwerke verschiedenster Wesen und Dinge werden zentral. Dabei geht es nicht nur um die Netzwerke der Natur, sondern ebenso um dynamische Flechtwerke, somit um weitere Möglichkeiten in unseren Kulturen, wobei sich Natur & Kultur verbinden.

Dem menschlichen, kontrollierenden, heldenhaften Solotanz wird dabei die dominierende Rolle streitig gemacht. Vielmehr werden die dynamischen Beziehungsgeflechte zwischen Körpern und Organismen mit unterschiedlichen Lebensformen hervorgehoben, damit neue Welten geschaffen werden, auch wenn sie unscheinbar erscheinen, fragil und ephemer sind.

Entsprechende Reflexionen finden wir ebenso bei der Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway auf ihrer Suche nach anderen Formen zum bisherigen dominanten heldenhaften Erzählen mit dem Menschen im Zentrum, den sie durch den Begriff des Cthul­hu­zäns (statt des Anthropäns mit agierenden Menschen im Mittelpunkt) festmacht, zugunsten einer Zukunft in einer durch Zusammen-Machen unter­schied­lichster Wesen und Dinge geprägten Welt.

Basis von Lowenhaupt Tsings Auseinandersetzungen bildet das neue Leben nach der Atomkatastrophe in Hiroshima, der durch den Matsutake-Pilz ermöglicht wird. Der Matsutake-Pilz bildet auch als erstes neues Leben in den abgeholzten Wäldern in Oregon (ein Forschungsgebiet der Anthropologin), zusammen mit Kakerlaken, Ratten und weiteren Tieren, die gemeinsam neue Lebensräume erschaffen. Die Autorin nennt dieses vielfältige artenübergreifenden Zusammenspiel «Latente Allmende». Lowenhaupt Tsings Fazit ist weniger eine Rehabilitation der menschlichen Zerstörung, als vielmehr ein Erkennen, dass am Ende der Welt nach ökologischer Zerstörung neues, vernetztes Leben wieder möglich ist. Diese zieht nicht selten Pilzsammler an, die unter prekären ökonomischen Bedingungen zu leben haben, u.a. traumatisierte Überlebende, Migranten, Menschen in prekären Lebensabschnitten oder Künstler (so Pilzliebhaber John Cage, festgehalten im Buch A Mycological Foray. Variations on mushrooms, Ed. Ananda Pellerin (2020), wo Cage nicht nur seine Passion zu den Pilzen und deren Nährwert geniesst, sondern diese auch als Lehrmeister für Leben und sein «mykologisch» geprägtes Werk versteht.) Schliesslich lässt Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch Individuen zu Wort kommen, deren unsichere Existenzen ohne Sicherheiten und Stabilität ein Wirken von offenen Gefügen und Flexibilität mit sich bringt, wo immer wieder verschiedene Möglichkeiten ergriffen werden, damit weiteres und neues Leben möglich wird, jenseits gesellschaftlich geprägter Vorstellungen von Ordnung und Fortschritt.

Schliesslich stellt sich die Frage, was Leben an und für sich ist, somit auch, wie ökonomische Wirklichkeiten aussehen, was artenübergreifende Kooperationen bringen könnten und welche anderen einfachen oder elementaren Lebensweisen Bedeutung haben können. Pilze, diese Erfahrung teilen weitere Passionierte, ermöglichen gemeinsames Leben diverser Arten und vermitteln Freude, um kulturelle und ästhe­ti­sche Formen zu entwickeln, um das arten­über­grei­fende Zusam­men­leben erfahrbar zu machen. Diese andere Sicht und vielfältiges Leben kann sich, so Lowenhaupt Tsing, im literarischen und wissenschaftlichen Erzählen niederschreiben. Dadurch kann Wissen von unserer Welt sowie von Leben vermittelt und Formen des Denkens gefördert werden, wo, wie in Märchen und Fabeln mit unterschiedlichsten Wesen und Dingen, Assemblagen und vielstimmige Welten geschaffen werden können.